Date : 23/03/2024

Last Updated on 25/04/2024

Sehen lernen

»Wohl kaum eine Zeit hat der Wahrnehmung so wenig Vertrauen entgegengebracht wie die gegenwärtige.«

Thomas Fuchs, Verteidigung des Menschen

Wer geboren wird, erblickt das Licht der Welt. Die sinnliche Wahrnehmung ist für unser Leben von grundlegender Bedeutung, ohne sie wüssten wir schlicht nicht, wo wir uns befinden, und wir wüssten auch nicht, wer wir sind. Wahrnehmung ist der Vorgang, bei dem ein Individuum vermittels seiner Sinne mit der äußeren Welt in Kontakt tritt und mit dieser interagiert, sozusagen die Welt in sich hineinlässt und umgekehrt sich in der Welt als etwas weiß, das davon verschieden ist. Daraus entsteht unser Wissen, das nie die Welt als Ganzes erfasst, sondern immer nur ausschnitthaft ist. Dieser Ausschnitt der Welt bildet wiederum die Grundlage unseres Denkens und Handelns, zu dem u. a. die Produktion symbolischer Dinge gehört, die wir Kunst nennen. Jede künstlerische Tätigkeit verdankt sich der Wahrnehmung, und soweit es die visuelle Gestaltung betrifft, ist dafür der Sehsinn verantwortlich. Sehen zu lernen ist die erste Aufgabe des Gestalters – eine Aufgabe, die zwar am Anfang aller gestalterischen Tätigkeit steht, aber immer wieder neu angegangen werden muss und praktisch nie abgeschlossen ist. Wie aber lernt man etwas, das zur biologischen Grundausstattung gehört, das man nicht erwerben muss wie die Sprache, das während der wachen Phasen des Daseins zumeist kontinuierlich, also ununterbrochen und ohne besonderes Zutun durch uns von selbst ausgeübt wird?

Man sieht, ohne sich bewusst vorzunehmen, sehen zu wollen. Aber in der Regel will man ja sehen, denn das Sehen stellt den vielleicht wichtigsten Zugang zur Welt überhaupt dar, dessen Verlust mit gravierenden Einschränkungen verbunden, und ein Weiterleben nur in einer solidarischen Gemeinschaft möglich ist, auf deren Hilfe die Betroffenen angewiesen sind. Natürlich können wir auch gedankenverloren in die Luft starren, dabei visuelle Reize empfangen, gewissermaßen mechanisch sehen, ohne etwas bewusst wahrzunehmen. Dann sind wir nicht bei der Sache, nehmen nicht an der Umwelt teil, sind entrückt. Sehen oder, allgemeiner, wahrnehmen, heißt teilnehmen, heißt anwesend sein. Sinnvollerweise lässt sich nur dann von Wahrnehmung sprechen, wenn wir bewusst wahrnehmen. Trotzdem also das Sehen eine für das Leben unter den meisten Bedingungen unverzichtbare, von allen beherrschte und ständig sowie automatisch ausgeübte Tätigkeit ist, gilt doch gleichermaßen, ob etwas und wenn ja, wie es gesehen wird, individuell sehr unterschiedlich ausfällt. Es sind, könnte man sagen, ebenso viele Sehweisen möglich, wie es Menschen gibt, und die Gründe dafür sind zahlreich.

»Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen – ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.«

Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Auf der physiologischen Ebene ist das Sehen für alle Menschen weitgehend gleich; weder der Aufbau der Sinnesorgane noch die neuronale Verarbeitung der Sinnesreize weisen individuell signifikante Unterschiede auf, weshalb wir normalerweise davon ausgehen, dass Dinge, die wir sehen, auch von anderen gesehen werden können. In der soziokulturellen Praxis des Sehens sind die Differenzen jedoch erheblich. Wahrnehmung insgesamt ist ein selektiver Vorgang, bei dem nur ein Teil der in der Umwelt verfügbaren Reize in unser Bewusstsein gelangt. Bereits im Aufbau der Netzhaut ist diese grundlegende Eigenschaft zu erkennen: lediglich in einem sehr kleinen Bereich des gesamten Sehfeldes sehen wir die Dinge wirklich scharf, weshalb wir, um etwas genau zu erkennen, den Blick und damit auch unsere Aufmerksamkeit direkt darauf richten müssen. Was zum Gegenstand der Aufmerksamkeit wird, hängt von zahlreichen biologischen, psychologischen und auch historischen Faktoren ab. Zwar ziehen einige Reize wie leuchtende Farben oder Bewegungen automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich, wir können aber auch aktiv beeinflussen, was wir sehen wollen, wir können unsere Aufmerksamkeit lenken. Dabei spielen individuelle Erfahrungen, Aufgaben und Interessen eine entscheidende Rolle.

Sich für das Sehen interessieren

Um Sehen zu lernen, sollte man sich zunächst einmal dafür interessieren, das Sehen selbst muss zum Gegenstand der Aufmerksamkeit werden. Da die Sinne im Alltag routinemäßig ihren nützlichen Dienst verrichten, ist dies keineswegs naheliegend. Bei künstlerisch-gestalterisch tätigen Menschen darf man aber wohl von einem solchem Interesse ausgehen, mehr noch ist anzunehmen, dass dieses nicht vorsätzlich gewählt wird, sondern bereits durch die individuelle Wahrnehmung selbst hervorgerufen wird, also auf einer spezifischen Sensibilität beruht. Darin ist ein wichtiger, wenn nicht sogar der entscheidende Grund zu finden, weshalb sich jemand der Kunst oder dem Design zuwendet. Es ist das, was man Talent zu nennen gewohnt ist.

Die Vorgehensweisen eines lernenden Sehens, das, wie eingangs erwähnt, die gestalterische Tätigkeit praktisch immer begleitet, können sehr individuell sein und eben von der jeweiligen Sensibilität bestimmt werden. In der Lehre sind aber nachvollziehbare Methoden gefragt, die die Bedingungen, Muster, Regeln und Normen des Sehens systematisch untersuchen, die Anleitungen geben, sich in das Sehen selbst zu vertiefen, dessen Möglichkeiten auszuloten und an seine Grenzen heranzutasten.

Mit dem vorliegenden Artikel beginne ich eine Serie von Texten über das Erlernen des Sehens – und damit der Gestaltung. Das Thema ist keineswegs neu und es haben sich in den vergangenen Jahrhunderten zahlreiche Künstler, Designer, Psychologen, Wissenschaftler und Philosophen aus unterschiedlichen Perspektiven dazu geäußert, deren Arbeiten eine wertvolle Quelle darstellen und auf die ich mich immer wieder beziehen werde. Sehen und das Sehen-Lernen sind außerordentlich facettenreiche Vorgänge, die hier nicht erschöpfend behandelt werden können – und das ist auch gar nicht meine Absicht. Mir geht es lediglich um jene Aspekte, die besonders eng mit der gestalterischen Arbeit, mit dem was visuelle Kommunikation genannt wird, verbunden sind. Meine in langjähriger gestalterischer Praxis und Lehre gewonnene Erfahrung sowie das seit meiner Jugend bestehende Interesse an visueller Wahrnehmung, an Kunst und Ästhetik und – seit etwa 15 Jahren – ganz besonders der Theorie des Bildes, motivieren mich dazu, einen eigenen Beitrag zu dem Thema zu leisten, der, so die Hoffnung, auch von anderen mit Interesse gelesen werden kann.

Die Herangehensweise entspricht meiner doppelten Profession als Gestalter und Kulturwissenschaftler, woraus sich ergibt, dass die gestalterische Praxis aus der Innenperspektive angegangen wird und die Theorie von einem kulturwissenschaftlichen Anspruch geprägt ist, der historisch perspektiviert ist und die Produktion symbolischer Artefakte sowohl synchron als auch diachron vergleichend in den Blick nimmt. Mir ist es sowohl um einzelne Personen – Gestalter, Künstler, Wissenschaftler, die bedeutende Beiträge zu Theorie und Praxis von Wahrnehmung und Gestaltung geleistet haben – als auch den kulturhistorischen Kontext zu tun. Es ist zwar davon auszugehen, dass dem Menschen grundsätzlich ein gestalterischer Impuls zu eigen ist, es sich bei der Gestaltung daher um eine anthropologische Konstante handelt, die allerdings nur im Rahmen der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung sinnvoll beurteilt und verstanden werden kann. Auch für das Sehen als Voraussetzung gestalterischer Tätigkeit gilt dies festzuhalten. Das obenstehende Zitat, das ich dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke entnommen haben, legt darüber ein klares Zeugnis ab: Aus der beschaulichen Provinz verschlägt es den Ich-Erzähler zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die pulsierende Metropole Paris, wo neuartige Seherlebnisse ihn herausfordern, schockieren und verwirren. Gerade unter dem Aspekt des Sehens zeigt sich die Großstadt als terra incognita.

Noch eine Anmerkung zur Methode

Bei diesen Texten handelt es sich um work in progress, das bedeutet, ich werde die Texte immer wieder überarbeiten und ergänzen, wo es mir notwendig erscheint. Zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung – die Aktualisierung wird jeweils mit angezeigt – befinden sie sich daher möglicherweise noch im Stadium des Entwurfs oder einer Skizze.

Die Texte werden sich an der nachstehenden Liste orientieren, die zum jetzigen Zeitpunkt als ebenso vorläufig und unvollständig verstanden werden muss:

  • Wahrnehmungspsychologie
    • Bildbezogene Tiefenreize
    • Konstanzphänomene
    • Gestaltprinzipien
    • Selektive Wahrnehmung
    • Präattentive Wahrnehmung
    • Gleichgewicht
    • Ausdruck
  • Semiotik
  • Visuelle Kultur
@